Welt am Sonntag
Klingende Rätsel
Wer die Musik von Schostakowitsch mag, hat jetzt die Gelegenheit, dessen 15 Streichquartette zu hören, gespielt vom Jerusalem Quartet
VON ILYA STEPHAN
Wie unzulänglich und irreführend Worte über Musik sein können beweisen immer wieder die Werke von Dmitrij Schostakowitsch. Dessen Musik ist so reich an bedeutungsvollen Zitaten, musikalischen Anspielungen und Doppelbödigkeiten, dass sie im Laufe der Jahrzehnte die gegensätzlichsten Deutungen provozierte. Je nach ideologischem Standort sahen Musikologen in Schostakowitsch den hoch geehrten Staatskomponisten der Sowjetunion oder einen heimlichen Dissidenten, der tönende Kassiber aus dem sozialistischen Kerker schmuggelte. Doch egal, was man in seiner Musik entdeckt zu haben meinte, die Auslegung seiner klingenden Rätsel blieb bestimmt von den Wahrnehmungsmustern des Kalten Krieges. Selbst lange nach seinem Fall in der realen Welt scheint der Eiserne Vorhang noch immer quer durch unser musikalisches Langzeitgedächtnis zu laufen.
Musikliebhaber, die sich grundlegend mit dem Werk dieses Großmeisters des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen möchte, bekommen dazu nun eine einzigartige Gelegenheit. An fünf über die Saison verteilten Terminen wird das Jerusalem Quartet den kompletten Zyklus der 15 Streichquartette aufführen. Dabei geht das israelische Quartett streng chronologisch vor; den Auftakt bilden am Sonnabend, den 9. November, im Kleinen Saal der Laeiszhalle die Quartette eins bis drei.
Bereits ein erster Blick auf die Namen der Ensemblemitglieder verrät die besondere Beziehung des Jerusalem Quartets zu Schostakowitschs Musik: Alexander Pavlovsky, Sergei Bresler und Kyril Zlotnikov stammen aus Weißrussland beziehungsweise der Ukraine. Russische Musik war ihnen also quasi in die Wiege gelegt, und auch die letzten Züge der Sowjetunion haben sie noch persönlich erlebt. Erst um 1990 emigrierten ihre Familien nach Israel. Einziges Quartett- Mitglied ohne Wurzeln in der Sowjetära ist der in Kalifornien geborene Ori Kam, der 2011 den vakant gewordenen Platz des Bratschers einnahm. So kann Kam heute gegenüber seinen drei Sowjet-erfahrenen Kollegen und deren Lieblingskomponisten die Position des wohlwollenden, aber von außen kommenden Beobachters vertreten. Gefragt nach den Grundzügen von Schostakowitschs Musik findet der Amerikaner vor allem Worte für das schwer in Worten zu Fassende an dessen Kunst: "Vielschichtig" und "ambivalent" sei die Musik des Russen. Alle Gefühle hätten einen doppelten Boden, hinter Heiterkeit könne Trauer stecken und aus der Tragik die Posse hervorlugen. Und bisweilen, gesteht Kam, erscheine ihm diese Musik schlicht als "manipulativ". Diese Art von bedeutungsschwangerem Versteckspiel sei ein altes Erbteil der russischen Kunst, dessen Ursprünge bis weit in die Zarenzeit zurückreichten. Schwierigkeiten, bei solchen Gratwanderungen den richtigen Ton zu treffen, habe er aber nicht, versichert der Mann von der US-Westküste: "Och, das ist leicht, wenn man mit drei Russen spielt."
Als Einstieg in die Welt von Dmitrij Schostakowitsch sind seine Streichquartette deshalb so gut geeignet, weil diese Gattung ihn über mehrere Jahrzehnte hinweg kontinuierlich beschäftigte. Zwar fand der Komponist 1938 erst relativ spät zu dieser Form, doch von da an spiegeln die Quartette alle Phasen seiner Entwicklung. Anders als die 15 Sinfonien waren sie nie für den großen Rahmen und offizielle Anlässe gedacht. Die meisten Quartette komponierte Schostakowitsch für die befreundeten Musiker des Beethoven- Quartetts. Und so seien die Quartette quasi ein musikalischer Entwicklungsroman aus der Innenperspektive, erläutert Kam.
Wie ambivalent Schostakowitschs Musik ist, und wie unterschiedlich die Deutungen ausfielen, die an sie herangetragen wurden, beweist dabei am besten sein bekanntestes Quartett: Das Streichquartett Nr. 8 in der tragischen Tonart c- Moll schrieb der Komponist 1960 während eines Aufenthalts in der Nähe von Dresden. Eigentlich hätte er dort Filmmusik schreiben sollen zu einem Streifen über sowjetische Kunsthistoriker, die Gemälde aus dem von den Alliierten zerbombten Elbflorenz gerettet hatten. – Im Westen heißt der Sachverhalt "Kunstraub". Stattdessen warf er im Rekordtempo von nur drei Tagen ein tieftragisches Quartett aufs Papier, das er den "Opfern des Faschismus und des Krieges" widmete. So galt das Werk nach orthodoxer Lesart lang als Abrechnung mit dem deutschen Faschismus.
Wie kaum ein zweites Werk von Schostakowitsch wimmelt das achte Streichquartett von Zitaten eigener und fremder Musik: Neben Anspielungen an die wichtigsten Stationen seiner eigenen Karriere haben unter anderem Wagner, Tschaikowsky und Glasunow ihre bedeutungsvollen musikalischen Auftritte. Nachdem 1979 die – zum Teil vom Herausgeber erfundenen – Memoiren des Komponisten im Westen als Buch erschienen waren, meinte man den Schlüssel zu all diesen Rätseln gefunden zu haben. Von nun an galt das "Dresden Quartett" vor allem als intimes Bekenntnis, als Abrechnung mit dem Stalinismus und als Requiem des Komponisten für sich selbst.
Schostakowitsch selbst sah die Sache nüchterner und charakterisierte den musikalischen Ertrag seines Deutschlandaufenthalts in einem Brief an einen Freund mit den Worten: "Dieses Quartett ist von einer derartigen Pseudotragik, dass ich beim Komponieren so viele Tränen vergossen habe, wie man Wasser lässt nach einem halben Dutzend Bieren." Im karnevalesken Universum des Dmitrij Schostakowitsch liegen die größten Gegensätze, Tragisches und Vulgäres, Historisches und Persönliches, offenbar verwirrend eng beieinander. Ob man den russischen Staatskomponisten tatsächlich posthum zum Dissidenten erklären darf, erscheint Ori Kam so zumindest zweifelhaft: "Er hat versucht, im Kleinen seinen Freunden zu helfen, aber er war kein Kämpfer gegen das Regime." Wer diese Sphinx von St. Petersburg wirklich war, muss man also entweder hörend aus seiner Musik erfühlen. Oder man muss es aus einer Vielzahl widersprüchlicher Quellen und zahlloser Anekdoten über das Leben des Meisters, Ori Kam nennt sie ironisch "Folklore", mühsam herausfiltern.
Eine gute Hilfestellung dazu bietet eine Website, die das New Yorker Lincoln Center jüngst eingerichtet hat. Unter der Adresse www.shostakovichquartets.com finden sich hier Einspielungen, Videos, Partituren zum Mitlesen und Werkkommentare. So geht anspruchsvolle Musikvermittlung im Internetzeitalter.
Das Schostakowitsch-Projekt I, Sonnabend 9. November, 20 Uhr, Laeiszhalle, Kleiner Saal. Weitere Konzerte am 7. Dezember/16. Januar 2014/27. Februar/ 22. April. Karten jeweils zu 11 bis 39 Euro, Telefon: 357 666 66

November 3, 2013